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Die lange Nacht und die Morgenröte

“Ehe ich aus freiem Willen und mit klaren Sinnen
aus dem Leben scheide, drängt es mich eine letzte Pflicht
zu erfüllen: diesem wundervollen Lande Brasilien
innig zu danken, das mir und meiner Arbeit so gute
und gastliche Rast gegeben. Mit jedem Tage habe ich dies
Land mehr lieben gelernt und nirgends hätte ich mir
mein Leben lieber vom Grunde aus neu aufgebaut,
nachdem die Welt meiner eigenen Sprache für mich
untergegangen ist und meine geistige Heimat Europa
sich selber vernichtet.

Aber nach dem sechzigsten Jahre bedürfte es besonderer
Kräfte um noch einmal völlig neu zu beginnen. Und
die meinen sind durch die langen Jahre heimat-
losen Wanderns erschöpft. So halte ich es für besser,
rechtzeitig und in aufrechter Haltung ein Leben abzu-
schliessen, dem geistige Arbeit immer die lauterste Freude
und persönliche Freiheit das höchste Gut dieser Erde
gewesen.

Ich grüsse alle meine Freunde! Mögen sie die Morgen-
röte noch sehen nach der langen Nacht! Ich, allzu
Ungeduldiger, gehe ihnen voraus.

Stefan Zweig
—-
Petropolis 22. II 1942″

Diesen Brief schrieb Stefan Zweig bevor er mit seiner Frau aus dem Leben schied.

Oliver Matuschek hat ein sehr besonderes Album über Stefan Zweig gemacht.

Als ich es zu Ende gelesen hatte, ließ es mich nicht mehr los.

Und so suchte ich stefanzweig.digital auf und landete bei seinem letzten Brief.

Ich zitiere nun meine eigenen Zeilen aus dayart.de:

„Am 28. November 1931 stand Stefan Zweigs 50. Geburtstag an, dem er mit Ängsten vor dem Altern entgegensah. In den vergangenen Jahren waren Rainer Maria Rilke und Hugo von Hofmannsthal im Alter von nur 51 und 55 Jahren verstorben. Für beide hatte er Gedenkreden vor großem Publikum gehalten.
Und während Hermann Bahr in einem Zeitungsartikel fragte, ob Zweig nicht ein geeigneter Kandidat für den Nobelpreis sei, kamen dem erhebliche Zweifel an seiner Arbeit, an seinem Erfolg und daran, dass ihm je ein Roman gelingen würde. Solchen depressiven Stimmungen versuchte Zweig durch intensive Arbeit und durch Reisen zu begegnen, die immer deutlicher auch Fluchten aus dem Familienleben waren. Seinen runden Geburtstag feierte er allein mit Carl Zuckmayer in einem Münchner Restaurant.“

Diese Sätze sind aus dem wunderbaren Buch Das Stefan Zweig Album. Ein Leben in Bildern von Oliver Matuschek.

Der Geburtstag ist ja eine spezielle Erinnerung, wie uns Schopenhauer von Jonathan Swift schon berichtete.

Auch Milan Kundera hat sich dazu sehr treffend geäußert: „Ich werde offen sein. Ich fand es schon immer entsetzlich, jemanden in die Welt zu schicken, der nicht darum gebeten hatte.«

Ich weiß«, sagte Alain.

Schau dich um: Keiner von all denen, die du siehst, ist aus eigenem Willen hier. Natürlich, was ich gerade gesagt habe, ist die allerbanalste Wahrheit. So banal und so wesentlich, dass man sie nicht mehr sieht und hört.«

Er fuhr zwischen einem Lastwagen und einem Auto, die ihn seit ein paar Minuten von beiden Seiten einklemmten.

»Alle quatschen von den Menschenrechten. Was für ein Witz! Deine Existenz ist auf kein Recht gegründet. Selbst dein Leben aus eigenem Willen zu beenden erlauben sie dir nicht, diese Ritter der Menschenrechte.«

Stefan Zweig hat sich das nicht nehmen lassen und nahm sich nach seinem 60. Geburstag zusammen mit seiner Frau das Leben. Dies hatte eine große Wirkung. So schrieb Carl Zuckmayer:

„In den Kreisen der Emigration hatte Stefan Zweigs freiwilliger Tod eine ungeheure Bestürzung hervorgerufen. … Wenn er, dem alle Möglichkeiten offenstanden, das Weiterleben für sinnlos hält – was bleibt dann denen noch übrig, die um ein Stück Brot kämpfen? … [Er gehörte] zu den Begünstigten unter uns. Zu den Vereinzelten, die einen internationalen Leserkreis, einen Widerhall für ihr Werk, eine ständige Anerkennung hatten. Zu den Wenigen, die schon eine neue Nationalität, einen gültigen Paß, eine Art von Sicherheit besaßen. Er hatte keine materiellen Sorgen, er konnte sein Leben einrichten, wie er wollte.“

(Carl Zuckmayer, „Did you know Stefan Zweig?„, in: Der große Europäer Stefan Zweig, Hrsg. Hanns Arens, Fischer Taschenbuch 1981, S. 133-134).

Wenn wir vom Ende zum Anfang springen und mit Albert Camus feststellen: „Es gibt nur ein wirklich ernstes philosophisches Problem: den Selbstmord[ 1]. Sich entscheiden, ob das Leben es wert ist, gelebt zu werden oder nicht, heißt auf die Grundfrage der Philosophie antworten. Alles andere–ob die Welt drei Dimensionen und der Geist neun oder zwölf Kategorien hat–kommt später.“

Dann finden wir die Antwort.

Ich habe ähnliche Erfahrungen gemacht. Schwere soziale und körperliche Schläge haben mich getroffen. Damit zu leben bedeutet jenseits der Illusionen zu leben.

Obwohl Stefan Zweig ja viel prominenter, reicher und freier war als ich, fühle ich mich durch seinen Satz stark berührt: “Aber nach dem sechzigsten Jahre bedürfte es besonderer Kräfte um noch einmal völlig neu zu beginnen.”

Allerdings haben unsere sozialen Lebensläufe außer dem gemeinsamen Sternzeichen keine Berührungspunkte. Er war von Hause aus reich, meine Familie sehr arm, er hatte von Anfang an Kontakte, die sein Schreiben unterstützten, ich konnte zwar schreiben aber kannte niemand und niemand interessierte mein Schreiben. Er wurde gefördert, ich wurde gefordert. Er schrieb über die großen Leute, ich schrieb über die kleinen Leute.

Und so war sein Leben ein Lauf von Erfolg zu Erfolg, während mein Leben ein Lauf von Mißerfolg zu Mißerfolg war und es nur darum ging materiell zu überleben. Alle Versuche meinerseits durch Qualifikation und Können mit eigener Software, eigenen Büchern und sozialen Leistungen sozial etwas zu werden, um sein zu können, scheiterten. Bei mir führte mein Idealismus immer nur zur Ausbeutung und Armut.

Vielleicht will ich deshalb im Gegensatz zu Stefan Zweig noch nicht sterben, weil Ablehnung, Armut und Ausbeutung immer mein Erleben der Welt war und ist. Aber mir fehlten die beschreibenden Worte, die ich bei Schopenhauer fand.

Ich fühle mich durch die Worte von Arthur Schopenhauer in seiner Heilsordnung aufgefangen und empfinde die Welt als Irrenhaus, was mir ein Blick auf unsere Politik sofort bestätigt. Da ist die logische Fortsetzung, daß Wissen und Qualifikation nichts wert sind: Wissen ist machtlos, Können nichts wert und Kennen allein das, was zählt.

Auch darüber hat Schopenhauer geschrieben und er endet so: “„Im allgemeinen freilich haben die Weisen aller Zeiten immer dasselbe gesagt, und die Toren, d. h. die unermeßliche Majorität aller Zeiten, haben immer dasselbe, nämlich das Gegenteil, getan: und so wird es denn auch ferner bleiben.“

Damit komme ich zum letzten Abschnitt.

“Es giebt nur einen angeborenen Irrthum, und es ist der, daß wir da sind, um glücklich zu seyn.”

Das ist der erste Satz aus Schopenhauer´s Heilsordnung. Wenn man diesen Satz nun auf Stefan Zweig anwendet, dann hat er ja im Vergleich zu mir offenbar viel Glück gehabt.

Aber solange ich mich entscheide, auf dieser Welt zu leben, ist der Satz von Schopenhauer Ausdruck dessen, was gilt.

Entweder ich kann damit leben – oder eben nicht.

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